Qual der Wahl (22 Mar 2006)

Wahlen sind was Feines und Erstrebenswertes, daran kann kein Zweifel bestehen. Ich danke im Stillen dem amerikanischen Präsidenten jeden Tag dafür, daß er möglichst allen Menschen freie Wahlen bescheren will, und müßte er sie dafür bombardieren.

Und dennoch plagen mich in diesen Tagen wieder allerhand hübsche kleine Wahlsorgen.

Nach Schwaben zog ich vor Jahr und Tag, des schnöden Mammons willen, also darf ich nächsten Sonntag auch helfen, gewichtige Entscheidungen darüber zu treffen, wer in den Landtag nach Stuttgart geschickt wird und wer lieber im Weiler verweilen soll. Aber ach, als Auswärtiger tut man sich schwer! Denn der hiesig Verwurzelte hat vermutlich den einen oder anderen Kandidaten vor Jahr und Tag mal beim Richtfest des Duschanbaus der Freiwilligen Feuerwehr am Nebentisch einen Bierhumpen stemmen sehen und sich dabei bewundernd geistig notiert, was für eine schnittige Sonnenbrille der Kandidat da trug. Er kann ihn also nächsten Sonntag für diese Schnittigkeit ruhigen Gewissens wählen. Oder aber er versagt dem Kandidaten seine Stimme ob dessen offensichtlichen Sonnenbrillenfetischismus. Wie auch immer: Keine allzu schwere Abwägung. Für mich hingegen ist guter Rat teuer, wenn überhaupt zu bekommen.

Und dann der Wahltag: Im Wahllokal sitzt das hiesige Dorf- oder Stadtpatriziat und kommt in vorbildlicher Weise seiner staatsbürgerlichen Verantwortung nach. Jeder Wähler, jede Wählerin wird mit Handschlag und Vornamen begrüßt, wenn auch nicht überschwänglich, denn sonst heißt es ja noch, man buhle in letzter Sekunde noch unziemlich um Stimmen. Aber es ist unverkennbar: Man kennt sich.

Auftritt meinereiner, und die Peinlichkeit beginnt: Die Honoratioren sind ja meist vortreffliche Leute, die täglich in ihren Ämtern Hunderte von Wahlbürgern treffen. Schon um nicht als unfreundlich oder vergeßlich dazustehen, lächeln sie verschmitzt und geben nicht klar zu erkennen, daß sie einen noch nie gesehen haben. Und ich wiederum stehe den Mächtigen des Marktfleckens, der Ehrenriege der Gemeinde gegenüber; jeder und jede von ihnen ist bei groß und klein bekannt und beliebt - nur ich habe auch nicht die mindeste Ahnung, mit wem ich's zu tun habe. Ganz bestimmt will ich es mir nicht mit den Lokalmächten verderben; wer kann schon sagen, wann man ihre Hilfe dringend brauchen wird.

Was also tun? Lächle ich tapfer und unbestimmt familiär zurück? Wie lange darf der Augenkontakt sein, bevor der Schwindel auffällt? Sollte ich vor dem Auftritt im Wahllokal nochmals die letzten 20 Ausgaben des Gemeindeblattes studieren und mir Gesichter einprägen, in der Hoffnung, eines zu erkennen und lässig bei der Begrüssung einen Namen fallen zu lassen? Was, wenn es der falsche Name wäre?

Oder begrüße ich stattdessen die Anwesenden in einem möglichst derben auswärtigen Dialekt, um mich klar als Reing'schmeckter zu kennzeichnen und die Situation schon an der Eingangstür zu klären? Hmmm... nicht schlecht, indes: Zwar stamme ich aus Franken und könnte mich daher theoretisch klanglich klar vom lokalen Dialekt absetzen, in der Praxis aber kommt mir meine Dialektunfähigkeit in die Quere, die ich schon so oft verflucht habe: Mehr als eine allgemein süddeutsche Färbung bekomme ich nicht glaubhaft hin, und die ist vom Honoratiorenschwäbisch erst nach einem etwas längeren Wortwechsel klar zu unterscheiden. Wo kriege ich jetzt auf die Schnelle einen Dialekttrainer her?

Oh große Not!



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Revision: r1.2 - 29 Jan 2007 - 20:55 - ClausBrod
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