Präzedenzfall (17 Sep 2010)

Stuttgart 21 und der Gegenentwurf Kopfbahnhof 21 bewegen seit Wochen die Republik. Zu diesem Anlass befand Anfang September Michael Maurer, stellvertretender Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung: "Die Zeitung muss Stellung beziehen".

Diesen fragwürdigen Artikel kommentierte ich online. Nach wenigen Tagen war allerdings mein Kommentar verschwunden, ebenso wie Anmerkungen anderer kritischer Leser. Beim zweiten Versuch, meinen Kommentar online bei der StZ unterzubringen, wurde er erst gar nicht mehr veröffentlicht. Das hinterlässt ein Gschmäckle - aber wozu hat man einen Blog. Hier also eine leicht erweiterte und aufgrund der Berichterstattung seit jenen Richtungsbestimmung auch schärfer formulierte Version meines ursprünglichen Leserbriefes.

"Die Zeitung muss Stellung beziehen" ist (zumindest in der Druckausgabe) als Kommentar gekennzeichnet, doch es hier geht nicht - wie sonst für Kommentare üblich - um die Meinung eines einzelnen Redakteurs. Stattdessen nimmt Herr Maurer für sich in Anspruch, für die gesamte Stuttgarter Zeitung zu sprechen, und plädiert für Stuttgart 21.

Doch eine Zeitung hätte ihre Aufgabe verfehlt, käme sie in einer für ihre Leser wichtigen Frage, wie es Stuttgart 21 zweifellos ist, nicht zu einem eindeutigen Urteil. Sie muss Einordnung bieten, nicht Beliebigkeit, und dies auf der Grundlage der "wahrhaftigen Unterrichtung".

Und weiter:

Die Stuttgarter Zeitung hat schon lange eine klare Haltung zu Stuttgart 21: Wir sehen das Vorhaben positiv, weil wir in dem Ausbau der Schieneninfrastruktur eine große Chance für die Stadt, für die Region und das Land sehen. Zu dieser generellen Einschätzung, die in einer großen und selbstbewussten Redaktion natürlich fast ebenso kontrovers diskutiert wird wie in der Stadt, steht die Stuttgarter Zeitung unverändert.

Damit ist die Katze aus dem Sack. Die Stuttgarter Zeitung macht keinen Hehl mehr aus ihrer Unterstützung für das umstrittene Projekt, und beansprucht darüberhinaus, diese Haltung "schon lange" einzunehmen. Was "schon lange" bedeutet, wird nicht erläutert, aber wenn man die Berichterstattung früherer Jahre berücksichtigt, kann man vermuten, dass diese Grundüberzeugung vor den Massenprotesten entstand. Wohlgemerkt also in einer Zeit, in der so manche wichtigen Fakten über das Projekt noch gar nicht bekannt waren.

Nach dem ersten Überfliegen war meine erste Reaktion: Zwar wäre mir persönlich eine andere Positionierung lieber gewesen, aber es gehört zum demokratischen Diskurs, andere Meinungen anzuhören und auszuhalten. Also fand ich zunächst nicht viel dabei.

Doch mit ein wenig Abstand betrachtet erschien mir die Argumentation immer fadenscheiniger. Wo, Herr Maurer, steht denn geschrieben, daß eine Zeitung eine offizielle Haltung zu einem Thema haben muss? Zitieren Sie nicht in eben jenem Artikel Herbert Riehl-Heyse, den Sie selbst für einen der "bedeutendsten deutschen Journalisten" halten, mit den Worten "Jetzt sitze ich zwischen allen Stühlen, wo Journalisten auch hingehören"?

Und wieso gibt die StZ ausgerechnet zu diesem Thema ein derartiges Plädoyer ab und nicht zu anderen? Ist das nun ein Präzedenzfall? Können wir in Zukunft auch mit offiziellen Empfehlungen im Namen der Stuttgarter Zeitung oder gar des Verlagshauses beispielsweise zum aktuellen Atomstreit rechnen? Oder vielleicht gleich zur Stimmabgabe bei Wahlen zu Landtag und Bundestag?

Undenkbar? Das wäre eine Bevormundung der Leser, die schliesslich schlau und informiert genug seien, um sich ihre eigene Meinung zu bilden?

Eben.

Wohlgemerkt: Ganz und gar nichts habe ich dagegen einzuwenden, wenn ein einzelner Kommentar Flagge zeigt; es würde mich auch nicht stören, wenn die Mehrzahl der Kommentare eine der beiden Seiten im aktuellen Streit stützte, solange nur die tägliche Berichterstattung einer Zeitung umfassend und fair bleibt.

Ich stosse mich aber sehr an dem Versuch, das institutionelle Gewicht eines Zeitungshauses in Form einer offiziellen Empfehlung auszuspielen. Die Chefredaktion gibt Leitlinien vor. Welche Zuversicht kann ich haben, daß S21-Gegner in der Redaktion sich nun nicht freiwillig zurücknehmen und im Zweifel den Konflikt mit der Chefredaktion meiden? Und muss ich nicht vielmehr mit tendenziöser Berichterstattung rechnen? Und in der Tat meine ich diese jüngst erkannt zu haben. Aber selbst wenn ich mich täuschte: Nach diesem Artikel ist mein Vertrauen in die Stuttgarter Zeitung perdu. Nicht nur in der Diskussion um S21, auch bei anderen aktuellen Themen erwarte ich von der StZ nur mehr Regierungstreue.

Wenn ich in Erwiderung des Kommentars ebenfalls eine Empfehlung abgeben dürfte (allerdings ganz inoffiziell und sozusagen nur unter uns): Elegant finde ich die Lösung der ZEIT, die explizit den Meinungsstreit in ihrem Blatt zulässt und sowohl Befürworter als auch Gegner zu Wort kommen lässt.

Natürlich wird Herr Maurer nun sagen, die ZEIT habe damit ihren Auftrag verfehlt. Man wird diesen Vorwurf in Hamburg mit Gelassenheit tragen.


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Revision: r1.1 - 17 Sep 2010 - 08:52 - ClausBrod
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