Stuttgart 21 und der Gegenentwurf Kopfbahnhof 21 bewegen seit
Wochen die Republik. Zu diesem Anlass befand Anfang September
Michael Maurer,
stellvertretender Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung:
"Die Zeitung muss Stellung beziehen".
Diesen fragwürdigen Artikel kommentierte ich online. Nach wenigen Tagen war allerdings
mein Kommentar verschwunden, ebenso wie Anmerkungen anderer kritischer Leser. Beim zweiten Versuch,
meinen Kommentar online bei der StZ unterzubringen, wurde er erst gar nicht mehr veröffentlicht.
Ein bißchen eigenartig - aber wozu hat man einen Blog. Hier also eine leicht erweiterte und aufgrund
der Berichterstattung seit jenen Richtungsbestimmung auch schärfer formulierte Version meines ursprünglichen Leserbriefes.
"Die Zeitung muss Stellung beziehen" ist als Kommentar gekennzeichnet, doch es hier geht
nicht - wie sonst für Kommentare üblich - um die Meinung eines einzelnen Redakteurs.
Stattdessen nimmt Herr Maurer für sich in Anspruch, für die gesamte Stuttgarter
Zeitung zu sprechen, und plädiert für Stuttgart 21.
Doch eine Zeitung hätte ihre Aufgabe verfehlt, käme sie in einer für ihre Leser wichtigen Frage, wie es
Stuttgart 21 zweifellos ist, nicht zu einem eindeutigen Urteil. Sie muss Einordnung bieten, nicht
Beliebigkeit, und dies auf der Grundlage der "wahrhaftigen Unterrichtung".
Und weiter:
Die Stuttgarter Zeitung hat schon lange eine klare Haltung zu Stuttgart 21: Wir sehen das Vorhaben positiv,
weil wir in dem Ausbau der Schieneninfrastruktur eine große Chance für die Stadt, für die Region und
das Land sehen. Zu dieser generellen Einschätzung, die in einer großen und selbstbewussten Redaktion
natürlich fast ebenso kontrovers diskutiert wird wie in der Stadt, steht die Stuttgarter Zeitung
unverändert.
Damit ist die Katze aus dem Sack. Die Stuttgarter Zeitung macht keinen Hehl mehr aus ihrer Unterstützung
für das umstrittene Projekt, und beansprucht darüberhinaus, diese Haltung
"schon lange" einzunehmen. Was "schon lange" bedeutet, wird nicht erläutert, aber wenn man
die Berichterstattung früherer Jahre berücksichtigt, kann man
vermuten, dass diese Grundüberzeugung
vor den Massenprotesten entstand. Wohlgemerkt also in einer
Zeit, in der so manche wichtigen Fakten über das Projekt noch gar nicht bekannt waren.
Nach dem ersten Überfliegen war meine erste Reaktion: Zwar wäre mir persönlich
eine andere Positionierung lieber gewesen, aber es gehört zum demokratischen Diskurs, andere Meinungen
anzuhören und auszuhalten. Also fand ich zunächst nicht viel dabei.
Doch mit ein wenig Abstand betrachtet erschien mir die Argumentation immer fadenscheiniger.
Wo, Herr Maurer, steht denn geschrieben, daß eine Zeitung eine offizielle Haltung zu einem
Thema haben muss? Zitieren Sie nicht in eben jenem Artikel Herbert Riehl-Heyse, den Sie selbst
für einen der "bedeutendsten deutschen Journalisten" halten, mit den Worten
"Jetzt sitze ich zwischen allen Stühlen, wo Journalisten auch hingehören"?
Und wieso gibt die StZ ausgerechnet zu diesem Thema ein derartiges
Plädoyer ab und nicht zu anderen? Ist das nun ein Präzedenzfall? Können wir in Zukunft auch
mit offiziellen Empfehlungen im Namen der Stuttgarter Zeitung
oder gar des Verlagshauses beispielsweise zum aktuellen Atomstreit rechnen?
Oder vielleicht gleich zur Stimmabgabe bei Wahlen zu Landtag und Bundestag?
Undenkbar? Das wäre eine Bevormundung der Leser, die
schliesslich schlau und informiert genug seien, um sich ihre eigene
Meinung zu bilden?
Eben.
Wohlgemerkt: Ganz und gar nichts habe ich dagegen einzuwenden, wenn ein
einzelner Kommentar Flagge zeigt; es würde mich auch nicht stören, wenn
die Mehrzahl der Kommentare eine der beiden Seiten im aktuellen
Streit stützte, solange nur die tägliche Berichterstattung einer Zeitung
umfassend und fair bleibt.
Ich stosse mich aber sehr an dem Versuch, das institutionelle Gewicht eines
Zeitungshauses in Form einer offiziellen Empfehlung auszuspielen. Die Chefredaktion
gibt Leitlinien vor. Welche Zuversicht kann ich haben, daß S21-Gegner
in der Redaktion sich nun nicht freiwillig zurücknehmen und im
Zweifel den Konflikt mit der Chefredaktion meiden? Und muss ich nicht vielmehr
mit tendenziöser Berichterstattung rechnen? Und in der Tat meine ich diese jüngst
erkannt zu haben. Aber selbst wenn ich mich täuschte: Nach diesem Artikel ist
mein Vertrauen in die Stuttgarter Zeitung perdu. Nicht nur in der Diskussion um S21,
auch bei anderen aktuellen Themen erwarte ich von der StZ nur mehr
Regierungstreue.
Wenn ich in Erwiderung des Kommentars ebenfalls eine Empfehlung
abgeben dürfte (allerdings ganz inoffiziell und sozusagen nur unter
uns): Elegant finde ich die Lösung der ZEIT, die explizit
den Meinungsstreit in ihrem Blatt zulässt
und sowohl Befürworter als auch Gegner zu Wort kommen lässt.
Natürlich wird Herr Maurer nun sagen, die ZEIT habe damit ihren Auftrag verfehlt. Man
wird diesen Vorwurf in Hamburg mit Gelassenheit tragen.
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